Verfasst vom Ehrw. Gonsar Tulku Rinpotsche,
Abt des Buddhistischen Klosters Rabten Choeling in der Schweiz. 


Im allgemeinen ist unter dem Buddhismus das zu verstehen, was auch die meisten Leute darunter verstehen, nämlich eine der großen Weltreligionen. Es gibt etwa 800 Millionen Buddhisten, von denen der größte Teil in Asien lebt, aber eine recht große Zahl von Buddhisten gibt es heutzutage auch in Europa und in Amerika.

Buddha Shakyamuni

Der Buddhismus geht auf Buddha Schakyamuni zurück. Buddha Schakyamuni war vor 2620 Jahren als Sohn des Königs Schudhodhana aus dem Geschlecht der Schakyas geboren. In seinen jungen Jahren erfuhr er den ganzen Luxus eines königlichen Lebens in dem nordindischen Königreich seines Vaters. Aber ein Menschenleben ist nicht nur angenehm, ganz gleich, wer es erfährt. Es ist durch viele Leiden von Körper und Geist geprägt. Das Leid der Krankheit, das Leid des Alterns und das Leid des Todes sind unausweichlich. Der junge Prinz Siddharta sah, daß er selbst und alle anderen Wesen sich in dieser unkontrollierten Situation befinden. Das Erkennen dieser Tatsache veränderte seine Auffassung grundlegend. Er fand keine Zufriedenheit mit dem Luxus seines königlichen Lebens und entschloß sich, Mittel zu finden, um alle Wesen von allen Leiden und deren Ursachen zu befreien. So verließ Buddha sein Leben als Prinz und begab sich in die Wälder auf die Suche nach einem geistigen Weg. Er begegnete vielen Heiligen seiner Zeit und diskutierte mit ihnen. Ihre Antworten und Methoden konnten ihn jedoch nicht zufriedenstellen. Er meditierte während sechs Jahren mit außerordentlichen Anstrengungen und erreichte schließlich in Bodhgaya den Zustand der vollen Erleuchtung, indem er einem Weg frei von allen Extremen folgte. Unter voller Erleuchtung versteht man den Zustand, in dem alle Fehler gänzlich beseitigt sind und alle Eigenschaften in einer perfekten Weise erlangt sind. Buddha erkannte die Situation des Leides der Wesen und die Ursachen dieses Leides. Er erkannte den Zustand einer vollständigen Befreiung von allen diesen Leiden und den Weg, der diesen Zustand herbeiführt. Den Zustand der vollen Erleuchtung hat Buddha in erster Linie für das Wohl der anderen angestrebt. Nach dem Erreichen der Erleuchtung war er dann ständig bemüht, anderen aus eigener Erfahrung den Weg zur Befreiung zu zeigen. Neunundvierzig Tage, nachdem Buddha die volle Erleuchtung erlangt hatte, gab er in Sarnath der ersten Gruppe von fünf Schülern Unterweisungen und von dann an bis zum Ende seines Lebens unzähligen weiteren Schülern. Die Aktivitäten eines Buddha für das Wohl der Wesen bestehen in erster Linie im Geben von Unterweisungen, weil Unerkenntnis die Wurzel aller Probleme ist. Und im Alter von 81 Jahren hat Buddha in Kuschinagar seinen Körper verlassen. Wenn man das Leben des Buddha in einer allgemeinen und sehr kurz gefaßten Weise erklären möchte, dann ist das etwa so zu sehen. Im Buddhismus kann das Leben des Buddha jedoch auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden und für jemanden, der ernsthaft nach Befreiung sucht, ist der Ablauf von Buddhas Leben allein schon ein eindrucksvoller Unterricht.

 Die Überlieferung

Sieben große Nachfolger des Buddha, von denen Kashappa und Ananda direkte Schüler waren, führten dann den Buddhismus weiter. Zu dieser Zeit gab es drei Versammlungen, in denen die Gesamtheit der Unterweisungen des Buddha zusammengetragen und aufgeschrieben wurde. Die erste Versammlung fand gleich nach dem Ende von Buddhas Leben statt, die zweite 110 Jahre später und die dritte 300 Jahre später. Buddhas Unterweisungen werden in drei Sammlungen (Tripitaka) aufgeteilt:

  • Vinaya-Pitaka: Ethik als zentrales Thema
  • Sutra-Pitaka: Ebenen von Konzentration als zentrales Thema
  • Abhidharma-Pitaka: Weisheit als zentrales Thema

Nach diesen sieben Nachfolgern des Buddha gab es eine Zeit der Degeneration des Buddhismus. Lehrer, die nur auf der Grundlage von intellektuellem Verständnis ohne direkte Erkenntnis unterrichteten, und die Verbreitung in verschiedenen Sprachen brachten einige Mißverständnisse. Als Resultat entstanden Aufspaltungen, die schlußendlich durch die Anstrengung und Weisheit großer Meister wieder behoben werden konnten. Dank ihren Bemühungen blühte der Buddhismus während langer Zeit in Indien. Einer dieser großen Meister war Nagardschuna, der 400 Jahre nach Buddha erschien.

Verbreitung und Einfluß

Aber nicht nur in Indien, sondern auch in den benachbarten Ländern breitete sich der Buddhismus weithin aus, und zu gewissen Zeiten war er in fast ganz Asien verbreitet. Nach Tibet kam der Buddhismus zum erstenmal im siebten Jahrhundert. Er hat eine so umfassende Integration in den Lebensstil der Tibeter gefunden, daß heute der Buddhismus von tibetischer Lebensart nicht mehr unterschieden werden kann. Der Buddhismus hat die Gedanken unzähliger Personen in ganz Asien und auch die Kultur in den verschiedensten Ländern entscheidend beeinflußt. Die Anwendung des Buddhismus ist in Indien und vielen dieser anderen Länder Asiens heute nicht mehr in der gleichen Stärke vorhanden, aber der große Einfluß in den Gedanken der Menschen, den Religionen und der Kunst dieser Länder ist bis heute noch spürbar. Mahatma Gandhi zum Beispiel, der wohl bekannteste und wichtigste Politiker Indiens, war ein Vertreter der gewaltlosen Politik. Seine Religion war nicht der Buddhismus, sondern der Hinduismus. Aber seine Bewegung der Gewaltlosigkeit und seine Auffassung gewaltloser Politik haben, nach eigenen Aussagen Gandhis, ihren Ursprung in den Gedanken des Buddhismus. Auch die Kunst Indiens, Chinas, Japans, der südostasiatischen Länder und ebenso Tibets und der Mongolei ist vom Buddhismus geprägt.

Das Wort „Buddhismus“

Das Wort Buddhismus ist in westlichen Sprachen entstanden und ist gebildet mit der lateinischen Nachsilbe -ismus, die in vielen Wörtern wie in Judaismus, Amerikanismus und so weiter Verwendung gefunden hat. Im Buddhismus selbst wird der Ausdruck Dharma verwendet. Das Wort Dharma hat seine Wurzel in der Sanskrit-Silbe dhra; dhra hat die Bedeutung von halten. Dieses Wort dhra ist manchmal gleichbedeutend mit Existentem, zum Beispiel in dem Ausdruck sarva dharma, was alle Phänomene bedeutet. Und das, weil alle Objekte ihre Natur halten. Das Wort Dharma wird auf zehn verschiedene Bedeutungen angewendet. Im Zusammenhang mit Religion wird das Wort Dharma für Unterweisung und Erkenntnis verwendet. Denn die richtigen Unterweisungen führen, wenn sie angewendet werden, zu richtigen Erkenntnissen. Und diese Erkenntnisse schützen den Anwender vor Leid oder ziehen ihn aus Leid heraus. Deshalb spricht man von Dharma oder Halter. In dieser Bedeutung kann man dann davon sprechen, Dharma zu lernen, Dharma anzuwenden, Dharma zu unterrichten und Dharma im eigenen Geist zu erzeugen.

 Die Essenz des Buddhismus

Was ist der zentrale Punkt des Dharma oder Buddhismus? Der zentrale Punkt, das sind die Wesen. Manche mögen denken, daß der zentrale Punkt des Buddhismus das Nirvana (Befreiung) ist, manche auch, daß es Buddha (das erleuchtete Wesen) ist. In Wirklichkeit sind es jedoch die Wesen. Was ist unter Wesen zu verstehen? Objekte, die Geist oder Bewußtsein besitzen, werden als Wesen bezeichnet. Weil solche Wesen Geist besitzen, machen sie sowohl die Erfahrungen von Glück als auch Leid. Jedes Wesen sehnt sich nach Glück, und jedes Wesen wünscht, von Leid frei zu sein. Aufgrund dieser Tatsache besteht Dharma. Dharma zeigt nichts anderes als die Situation der Wesen, die Ursache für diese Situation, die Umwandlung dieser Situation und das Resultat der Umwandlung. Dharma kann deshalb immer nur im Kontext mit der Situation der Wesen verstanden werden. Die Ziele des Dharma wie Befreiung oder Erleuchtung sind auch nichts anderes als ein Zustand der Wesen. Ohne diesen Bezug zu den Wesen gibt es keine Möglichkeit, Dharma zu verstehen, keine Möglichkeit, Dharma anzuwenden und auch keinen Zweck für Dharma. Diese Tatsache tritt auch in den grundlegendsten Unterweisungen des Buddha deutlich hervor. Die grundlegendsten Unterweisungen des Buddha sind die Vier edlen Wahrheiten. Es ist das Dharma, das Buddha seinen ersten fünf Schülern unterrichtete. Nicht nur sind das die grundlegendsten Unterweisungen des Buddha, sondern die Essenz aller Unterweisungen des Buddha ist darin enthalten. Kurz ausgedrückt sind es vier Punkte: Wahrheit des Leids, Wahrheit des Ursprungs, Wahrheit der Beseitigung und Wahrheit des Weges.

Die Wahrheit des Leids

Die Wahrheit des Leides beschreibt unsere gegenwärtige Situation. Das bedeutet aber nicht, daß unsere gegenwärtige Lage nur aus Schmerzen und Traurigkeit besteht. Buddha hat deutlich gemacht, daß es drei Ebenen von Leid gibt. Diese werden Leid der Schmerzen, Leid der Veränderung und allumfassendes Leid genannt. Das, was wir Menschen und auch die Tiere als Leid erkennen, ist diese erste Ebene von Leid, das Leid der Schmerzen. Das sind Krankheiten und Leiden, Schmerzen des Körpers und Traurigkeit, körperliche und geistige Schmerzen. Viele Arten von Erfahrungen, die wir im allgemeinen als Glück bezeichnen, gehören zur zweiten Art von Leid. Auch davon gibt es sowohl körperliches als auch geistiges Leid. Das ist zum Beispiel das Wohlbehagen der Wärme, wenn wir frieren, das Wohlbehagen der Kühlung, wenn uns zu heiß ist, das Wohlbehagen des Essens, wenn wir hungrig sind, und so weiter. Auch geistiges Wohlbehagen, das wir aufgrund von Reichtum, von gesellschaftlich guter Stellung und gutem Ruf oder einer Begleitung erfahren. Das ist geistiges Glück. Diese Erfahrungen sind zweifellos nicht schmerzhaft. Was Buddha deutlich macht, ist, daß diese Erfahrungen jedoch kein reines Glück sind. Vielmehr haben diese Erfahrungen die Eigenschaft, daß wir das Abnehmen eines vorher vorhandenen Leides als Glück erfahren. Wenn wir zum Beispiel hungrig sind und Nahrung einnehmen, wird mit fortschreitender Einnahme von Nahrung das Unbehagen des Hungers abnehmen; und das erfahren wir als Glück. Aber das ist kein bleibendes und kein reines Glück. Denn diese Erfahrung hat eine Grenze. Wenn die Grenze überschritten wird, wird die gleiche Erfahrung leidvoll. Aus diesem Grund hat Buddha diese Art von Erfahrung als veränderliches Leid bezeichnet. Buddha hat nicht gesagt, daß diese Art von Glück nicht erfahren werden darf, sondern vielmehr macht er deutlich, daß diese Erfahrungen eine Grenze und eine Verbindung mit Leid haben und wir sie deshalb nicht als wirkliches Glück mißverstehen sollen und beim Erfahren dieser Art von Glück bedacht vorgehen müssen. Wenn wir dieses Glück mit Zufriedenheit und Genügsamkeit verwenden, kann es nützlich sein; wenn es ohne Zufriedenheit und Genügsamkeit angestrebt wird, wird es zusätzliches Leid erzeugen. Da diese Erfahrungen nicht vollständig frei von Leid sind, werden sie als Leid der Veränderung bezeichnet. Diese Tatsache kann man nur verstehen, wenn man eine etwas schärfere Intelligenz besitzt. Ein Tier zum Beispiel ist nicht in der Lage, diesen Zusammenhang zu erkennen. Nicht nur das, selbst die meisten Menschen betrachten diese Art von Erfahrung als das eigentliche, erstrebenswerte und höchste Glück. Nun die dritte Art von Leid: sie ist die Basis der ersten zwei Arten von Leid. Ein Dasein ohne Freiheit ist darunter zu verstehen. Es ist die Tatsache, daß wir über unsere Geburt, über die grundlegenden Erfahrungen während unseres Lebens, über unser Alter und über unseren Tod keine Freiheit besitzen und darüber nicht nach Wunsch bestimmen können. Daß unsere Geburt und unser Tod nicht entsprechend unseren Wünschen verlaufen, ist klar zu sehen. Mit dem Ende des Lebens hört das Dasein jedoch nicht auf, sondern man nimmt wieder Geburt. Nun, wo man Geburt nimmt, in welcher Umgebung, ist wiederum nicht durch den eigenen Willen bestimmbar. Diese Tatsache, daß wir zwar wohl gegenwärtige Freiheit, aber keine grundlegende Freiheit besitzen, wird als umfassendes Leid bezeichnet. Und auf dieser Grundlage erfahren wir in unserem Dasein die anderen Arten von Leid. Um diese dritte Art von Leid erkennen zu können, muß man präzisen Überlegungen folgen. Das war eine kurze Beschreibung der grundlegenden Situation unseres Daseins, der Wahrheit des Leides.

Die Wahrheit des Ursprungs

Unter der zweiten edlen Wahrheit, der Wahrheit des Ursprungs, versteht man die Ursachen für die Situation, in der wir uns befinden. Um eine leidvolle Situation verändern zu können, ist es äußerst wichtig, die präzisen Ursachen dieser Situation zu kennen. Vielen von uns scheint es so, als ob die Ursachen für unsere Erfahrungen von Glück und Leid Objekte außerhalb der eigenen Person seien. Wir sehen entweder andere Wesen, die Gesellschaft oder unbelebte Gegenstände oder selbst das Wetter als die eigentlichen Ursachen für unser Glück und Leid. Manche kommen zu besonderen Auffassungen und betrachten übernatürliche gute und schlechte Wesen als Quelle ihres Glücks und Leids. Aber der größte Teil dieser äußeren Objekte entspringt unserer Fantasie und hat keinerlei Beziehung zu unseren Erfahrungen von Glück und Leid. Diejenigen äußeren Objekte, die tatsächlich unser Glück und Leid beeinflussen, sind lediglich ein Faktor in dieser Erfahrung, aber nicht die eigentliche Ursache. Ein Faktor ist etwas Veränderliches. So kann ein und dieselbe Person für den einen ein Faktor des Glücks und für den anderen ein Faktor des Leids sein. Was heute ein Faktor von Glück ist, kann morgen ein Faktor von Leid sein, und auch umgekehrt. Was ist die letztliche Ursache für unsere Erfahrungen von Glück und Leid? Buddha machte deutlich, daß diese Ursachen nicht außerhalb der Person, sondern in einem selbst liegen. Es sind zwei Ursachen; diese werden Karma und Klescha genannt. Karma sind die Handlungen von Körper, Rede und Geist. Kleschas sind die Verblendungen des Geistes. Die eigentliche, tiefste Wurzel unseres Leides sind die Verblendungen unseres Geistes. Verblendungen sind Zustände unseres Geistes, die uns recht gut bekannt sind, wie Begierde, Haß, Stolz, Eifersucht und Geiz. Die Wurzel aller Verblendungen sind Egoismus und Unerkenntnis. Es gibt zwei Arten von Unerkenntnis: Das Unverständnis des Gesetzes von Ursache und Wirkung und die Unerkenntnis der letztlichen Art des Bestehens der Objekte. Alles Leid, das wir erfahren, hat seine Wurzel in unseren Verblendungen und den Handlungen, die wir durch den Einfluß der Verblendungen ausführen. Als die eigentliche Ursache unseres Glücks betrachten wir andere Personen, Orte, Besitz oder bestimmte Gegenstände. Die ersehnten Objekte versuchen wir zu bekommen oder zu verändern. Diese Objekte sind jedoch lediglich Faktoren für die Erfahrung von Glück. Die wirklichen Ursachen für Glück sind Zustände des eigenen Geistes wie Zufriedenheit, Genügsamkeit, Liebe, Erbarmen, Wertschätzen anderer, Weisheit und ebenso die Handlungen, die unter dem Einfluß solcher Faktoren ausgeführt werden. Diese Aussage, daß sich die Ursachen sowohl für das individuelle als auch das kollektive Glück und Leid im eigenen Geist befinden, ist eine der wichtigsten Aussagen des Buddhismus. Wenn die Ursachen für Glück im eigenen Geist stark und stabil sind, dann wird selbst in Situationen, wo die äußeren Umstände schwierig und unangenehm sind, eine Person ihre geistige Ruhe und Zufriedenheit nicht verlieren. Wenn dagegen die Ursachen für Leid in einer Person stark und dominant sind, dann wird selbst in einer sehr angenehmen Umgebung, in der alle Faktoren für Glück und Wohlbehagen vorhanden sind, vor allem Leid und nur selten Glück erfahren werden. Das war eine kurze Beschreibung der edlen Wahrheit der Ursprungs.

Die Wahrheit der Beseitigung

Der Zustand, in dem man keine Kontrolle über seinen Tod und seine Geburt hat, sondern einzig als Wirkung der eigenen Handlungen und der Verblendungen von einer Existenz zur anderen geht, wird im Buddhismus als Samsara oder bedingtes Dasein bezeichnet. Solange wir uns in bedingtem Dasein befinden, erfahren wir nur gegenwärtiges Glück, aber kein bleibendes Glück. Um ein reines und bleibendes Glück zu erlangen, ist es notwendig, von bedingtem Dasein freizukommen. Freiheit von bedingtem Dasein erreicht man, indem die Hauptursache bedingten Daseins beseitigt wird. Aufgrund heilsamer und unheilsamer Handlungen nehmen wir innerhalb des bedingten Daseins gute und schlechte Existenzen. Das, was Geburt nimmt, ist das Kontinuum des Bewußtseins. Das Kontinuum des Bewußtseins besteht in verschiedenen Ebenen der Feinheit. Lediglich der feinste Zustand geht von einer Existenz zur nächsten. Das Kontinuum des Bewußtseins ist eine Abfolge von ständig entstehenden und vergehenden Zuständen des Geistes. Auf der subtilsten Ebene des Kontinuums des Bewußtseins werden positive und negative Eindrücke hinterlassen, wenn wir positive oder negative Handlungen ausführen. Der Augenblick, wo aus dem subtilsten Zustand des Geistes die ersten gröberen Zustände des Geistes zu entstehen beginnen, wird, in präziser Weise betrachtet, als Geburt bezeichnet. Das Entstehen der gröberen Zustände des Geistes bis zu den gröbsten und die Zeitspanne des Verweilens dieser gröbsten Zustände wird als Lebensspanne bezeichnet. Wenn sich der Geist von den groben Zuständen wieder auflöst, bis nur noch der subtilste Zustand vorhanden ist, spricht man vom Vorgang des Todes. Die Zeitspanne, während der der Geist im subtilsten Zustand ist, wird als Tod bezeichnet. In der Auffassung des Buddhismus liegt der eigentliche Zeitpunkt des Todes also später als der des sogenannten klinischen Todes. Der Augenblick der Geburt liegt vor dem Zeitpunkt der üblichen Auffassung von Geburt. Mit was für einem Körper sich unser Kontinuum des Geistes verbindet, wird von den positiven und negativen Eindrücken auf der subtilsten Ebene des Geistes bestimmt. Jede Handlung, die wir während des Lebens ausführen, hat zwei Resultate. Um das am Beispiel des Tötens eines Wesens zu zeigen: Wenn ein Wesen getötet wird, ist das eine Resultat das Leid, das dem anderen Wesen zugefügt wird. Gleichzeitig wird im Kontinuum des Geistes der tötenden Person ein starkes negatives Potential erzeugt. Dieses negative Potential ist eine bedeutende Ursache für Leid, das diese Person in der Zukunft erfahren wird. Was immer wir an Glück und Leid erfahren, sei es individuelles Glück und Leid oder das einer ganzen Gesellschaft, es ist immer das Resultat positiver und negativer Eindrücke im Kontinuum der Wesen. Diese positiven und negativen karmischen Potentiale sind verantwortlich sowohl für die Erscheinungen der Objekte, die ein Wesen erfährt, als auch für die grundlegenden Neigungen des erfahrenden Geistes. Deshalb wird im Buddhismus deutlich gemacht, daß das bedingte Dasein, das man erfährt, vom eigenen Karma erzeugt wird. Dadurch erfahren manche Wesen aufgrund starker positiver Eindrücke außerordentliches Glück und Wohlbehagen; andere wiederum aufgrund starker negativer Eindrücke außerordentliches Leid. Die innerste Wurzel des bedingten Daseins ist die Unerkenntnis; und im besonderen die Unerkenntnis des Greifens nach einer unabhängigen Identität der eigenen Person. Die Wirklichkeit ist, daß ein Wesen eine Ansammlung der fünf Aggregate darstellt. Das sind Körper, Empfindung, Unterscheidung, Faktoren des Geistes und Bewußtsein. Die Person ist ein Objekt, das als Benennung auf der Grundlage dieser Aggregate in relativer Weise existiert. In dieser Art der Existenz sind wir auch vollständig funktionsfähig. Unsere Unerkenntnis jedoch projiziert ganz im Widerspruch zu dieser Wirklichkeit etwas, das gar nicht existiert. Unsere Unerkenntnis projiziert auf der Grundlage der Aggregate eine unabhängige Identität, obwohl es keine solche gibt. Eine solche Identität erscheint uns von der Seite der Aggregate, wir glauben, daß sie existiert, und greifen in starker Weise danach als Ich, Person oder Selbst. Es erscheint uns dieses Ich wie ein Besitzer der Aggregate, der mitten in den Aggregaten wohnt. Es erscheint uns so, als ob die Aggregate auf diesem Ich beruhten, während die Wirklichkeit genau umgekehrt ist und das Ich gänzlich von den Aggregaten abhängig ist. Dieses Greifen nach Ich führt dann weiter zum Betrachten anderer Objekte als Mein, wie zum Beispiel mein Körper, mein Geist, meine Freunde, meine Feinde, mein Land, meine Religion und so weiter. Alle diese Dinge scheinen ein Besitz dieses unabhängigen Ichs zu sein. Und dadurch entstehen viele getäuschte Zustände des Geistes wie das Hängen an den einen, die Abneigung gegenüber anderen, Egoismus, Stolz und so weiter. Nun, das soll nicht heißen, daß es kein Ich gibt, sondern vielmehr gilt es zu verstehen, daß das wirklich vorhandene Ich ein abhängiges Ich ist, das lediglich in nomineller Weise besteht. Diese Auffassung, die die eigene Wirklichkeit in verkehrter Weise erfaßt, wird als Unerkenntnis des Greifens nach Selbstexistenz bezeichnet, und das ist die Wurzel bedingten Daseins. Um von bedingtem Dasein freizukommen, ist es notwendig, diese Unerkenntnis nicht nur in intellektueller Weise als falschen Geisteszustand zu erkennen, sondern diese Unerkenntnis gänzlich aus dem Geist zu entfernen. Wenn einem das gelungen ist, sind dadurch auch alle falschen Vorstellungen und anderen Verblendungen, die auf der Unerkenntnis gründen, ebenfalls entfernt. Dadurch sind auch alle Handlungen, die Leid erzeugen, beendet. Und damit hat das leidvolle Dasein ein Ende. Und wenn das erreicht ist, hat man vollständige Kontrolle über sein Dasein. Diesen Zustand bezeichnet man als individuelle Befreiung. Manche stellen sich unter Befreiung einen äußeren Ort vor, der schon irgendwo existiert, und das Erreichen der Befreiung wie das Erreichen dieses Ortes. Es gibt die Befreiung, es gibt auch Personen, die die Befreiung erreicht haben. Aber die eigene Befreiung besteht im Moment noch nicht, diese muß man erst selbst noch zum Vorschein bringen, indem man seine Art des Daseins verändert. Auch mit dem Ausdruck Nirvana wird dieser Zustand bezeichnet. Nirvana bedeutet jenseits von Leid. Nirvana bedeutet also nicht eine vollständige Auflösung der eigenen Existenz. Es ist auch gar nicht möglich, aufzuhören zu existieren. Auch wäre es in keiner Weise erstrebenswert, aufzuhören zu existieren. Vielmehr versteht man unter Nirvana den Zustand, in dem man eine vollständige Kontrolle über sein Schicksal gewonnen hat und somit vollständige Freiheit von der Fremdmacht der Handlungen und Verblendungen erreicht hat. Wenn man eine solche Freiheit erreicht hat, dann wird jede Bemühung, sowohl für eigenes Wohl als auch das Wohl anderer wesentlich effizienter und reiner. Selbst wenn man sich in bedingtem Dasein befindet, ist es möglich, aufgrund einer guten Motivation sehr umfangreiche heilsame Handlungen durchzuführen. Aber immer wird ein gewisser unreiner Einfluß durch Unerkenntnis und Verblendungen vorhanden sein. Deshalb ist es wichtig, die heilsamen Handlungen so rein und perfekt wie möglich zu machen. Wesen, die Freiheit erlangt haben, nehmen für das Wohl der Wesen auch in bedingtem Dasein Geburt. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen dieser Art, Geburt zu nehmen, und der Art, wie gewöhnliche Wesen innerhalb des bedingten Daseins Geburt nehmen. Solche Wesen nehmen für das Wohl anderer Wesen mit einer präzisen Absicht und mit vollständiger Freiheit Geburt.

 Die Wahrheit des Weges

Der Zustand der Befreiung wird als edle Wahrheit der Beseitigung bezeichnet. Wie wird diese Freiheit erreicht? Sie wird erreicht, indem die edle Wahrheit des Weges angewendet und im eigenen Kontinuum erzeugt wird. Es gibt viele Aspekte der Anwendung, die wichtigsten sind jedoch Ethik, Konzentration und Weisheit. Denn ohne diese drei ist es nicht möglich, die Wurzel des bedingten Daseins, die Unerkenntnis, zu zerstören. Denn die Unerkenntnis des Greifens nach Selbstexistenz kann einzig durch eine Weisheit beseitigt werden, die der Unerkenntnis direkt entgegengesetzt ist. Diese Weisheit wird als Erkenntnis der Identitätslosigkeit bezeichnet. Diese Weisheit der Erkenntnis der Identitätslosigkeit wird durch Vervollkommnung in der konzentrativen und analytischen Meditation erreicht. Dadurch wird die Schulung der Konzentration unumgänglich. Denn ohne diese Konzentration hat man keine Freiheit über die Funktionen des Geistes und ist nicht in der Lage, den Geist nach Wunsch zu benützen. Perfekte Konzentration kann erreicht werden, wenn das Verhalten von Körper, Rede und Geist richtig geführt wird. Ohne richtiges Verhalten dieser drei ist Konzentration nicht erreichbar. Und dadurch wird die richtige Ethik entscheidend. Richtige Ethik ist das Vermeiden falscher Handlungen von Körper, Rede und Geist und das Befolgen korrekter Handlungen von Körper, Rede und Geist. Was heilsam ist und was unheilsam ist, hat nicht Buddha bestimmt. Die Einteilung in heilsame und unheilsame Handlungen ist nicht ein Gesetz, das von Buddha gemacht ist, sondern einzig in bezug auf die Motivation und das Resultat einer Handlung kann zwischen heilsamen und unheilsamen Handlungen unterschieden werden. Eine Handlung, die von Verblendungen motiviert ist und den Wesen in direkter oder indirekter Weise Schaden zufügt, ist eine unheilsame Handlung. Eine Handlung, die durch die heilsamen Faktoren des Geistes motiviert ist und den Wesen in direkter oder indirekter Weise Hilfe bringt, ist eine heilsame Handlung, die es auszuführen gilt. Es werden zehn grundlegende unheilsame Handlungen beschrieben: Töten, Stehlen, sexuelles Fehlverhalten, Lügen, Zwietracht Säen, Schimpfen und Schwätzen, Begierde, Bosheit und falsche Ansichten; alles Handlungen, die den Wesen direkt Schaden zufügen. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Fehler, die man überwinden muß, und viele heilsame Handlungen, denen es zu folgen gilt. Die Grundlage jeglicher Ethik des Buddhismus ist Ahimsa. Und Ahimsa heißt Schadlosigkeit. Das Objekt dieser Schadlosigkeit sind nicht nur Menschen, sondern alle Wesen, einschließlich der Tiere. Entsprechend den eigenen Fähigkeiten gibt es noch viele weitere Ebenen der Ethik, denen man folgen kann, wie die Gelübde von Laien, Novizen, Mönchen, Nonnen, Bodhisattvas und so weiter. Ethik ist die Grundlage für alle positiven Eigenschaften. Im Buddhismus wird Ethik als die Grundlage aller guten Eigenschaften mit der Erde verglichen. Gelb ist die Farbe der Erde und symbolisiert die Ethik. Das ist der Grund, weshalb die buddhistischen Mönche gelbe Kleidung tragen. Manche große Meister Tibets tragen ebenfalls gelbe Kopfbedeckung. Auch hier symbolisiert die gelbe Farbe die Ethik. Das Anwenden von Ethik, Konzentration und Weisheit und dadurch das Verwirklichen dieser Schulung im eigenen Geist wird als edle Wahrheit des Weges bezeichnet, die zur Befreiung von bedingtem Dasein führt. Buddha hat die edlen Wahrheiten mit folgenden Worten unterrichtet:

 Dies ist die edle Wahrheit des Leids,
dies ist die edle Wahrheit des Ursprungs,
dies ist die edle Wahrheit der Beseitigung,
dies ist die edle Wahrheit des Weges.

 Erkenne das Leid,
entferne die Ursache,
verwirkliche die Beseitigung
schule dich auf dem Weg.

 Diese vier edlen Wahrheiten werden auch mit der Situation eines Kranken verglichen. Damit ein Kranker eine Heilung erreichen kann, muß er zuerst einmal verstehen, daß er krank ist. Auch muß er wissen, woher seine Krankheit kommt. Auch muß er den Wunsch haben, das Wohlbehagen der Gesundheit, der Freiheit von dieser Krankheit zu erreichen. Und wenn er diesen Wunsch hat, dann kann er eine richtige Behandlung suchen und durch Anwenden der Behandlung Freiheit von seiner Krankheit erreichen. Um diese Befreiung zu erreichen, gilt es in erster Linie, selbst sich zu bemühen. Ohne eigene Anstrengungen können nicht alle eigenen Notwendigkeiten von außen her erfüllt werden. Buddha hat das mit den folgenden Worten ausgesprochen:

Ich habe dir den Weg zur Befreiung gezeigt.
Wisse, daß die Befreiung jedoch von dir abhängt,
von den eigenen Anstrengungen,
Ethik zu befolgen und Weisheit zu entwickeln.

Der Meister

Allein, ganz auf sich allein gestellt jedoch, ist es ebenfalls nicht möglich. Und so ist der nächste wichtigste Punkt, sich einem qualifizierten Meister anzuvertrauen, der einem diesen Weg zeigt. Einem geistigen Meister darf man sich nur anvertrauen, wenn man mit klaren Überlegungen sowohl die Person als auch das von dieser Person unterrichtete Dharma genau geprüft hat. Es ist in keiner Weise richtig, sich ohne solche Prüfung irgendeiner Person blind anzuvertrauen. Eine Beziehung zwischen Schüler und Meister darf nicht so plötzlich entstehen, wie das Aufeinandertreffen von Hund und Knochen. Alle Eigenschaften, die einen qualifizierten Meister kennzeichnen, sind in den Schriften in Aufzählungen von 10 und 20 Punkten genau beschrieben. Im geringsten Fall jedoch muß ein Meister die folgenden Eigenschaften besitzen.

  • Er muß das Dharma, das er erklärt, ganz beherrschen.
  • Seine Darlegungen des Dharma müssen klar und verständlich sein.
  • Er muß das von ihm erklärte Dharma nach bestem Vermögen selbst anwenden.
  • Alle Erklärungen muß er aus Erbarmen und ohne jedes Selbstinteresse geben.

Eine intelligente Person wird den ersten Kontakt mit einem Meister als Zuhörer herstellen, dann lange und vorsichtig analysieren. Mit der Zeit wird es sich dann herausstellen, ob die Person ein wirklicher Meister ist und ob man ihr vertrauen kann. Auch das Dharma, das ein Meister erklärt, gilt es sowohl auf seine Worte als auch auf eine Bedeutung genau zu überprüfen und nur nach einer solchen Prüfung zu akzeptieren. Buddha sagte:

So, wie Gold durch Brennen,
Schneiden und Reiben geprüft wird,
so prüft meine Worte.
Und akzeptiert sie dann,
aber nicht aus Respekt für mich.

Auf korrekte Begründungen muß man sich verlassen, nicht auf unbegründeten Glauben. In dieser Weise muß man zuerst lernen und über die Bedeutung dessen, was man gelernt hat, nachdenken. Wenn man eine feste Überzeugung gefunden hat, werden die Auffassungen in den eigenen Handlungen angewendet und in konzentrativer und analytischer Meditation vertieft. Mit dieser Vorgangsweise ist es möglich, korrekte und fehlerfreie Erkenntnisse zu erlangen. Solche Erkenntnisse sind das eigentliche Gegenmittel gegen die Wurzel allen Leides, die Verblendungen.

Ziele im Buddhismus

Fragt man sich, ob das letztliche Ziel erreicht ist, wenn eine solche individuelle Befreiung erlangt ist, dann ist die Antwort nein. Wenn man die Gesamtheit des Buddhismus anwendet, können drei Ziele unterschieden werden: ein gewöhnliches Ziel für einen ganz gewöhnlichen Anwender, ein mittleres Ziel für einen mittleren Anwender und ein höchstes Ziel. Das gewöhnliche Ziel wird durch Vermeiden unheilsamer Handlungen und gezieltes Ausführen heilsamer Handlungen angestrebt. Man versucht, nicht in elende Daseinsformen zu geraten, sondern eine wertvolle Grundlage des Daseins zu erreichen. Aber damit allein kann man sich nicht zufriedengeben. Das mittlere Ziel besteht darin, bedingtes Dasein, seine Eigenschaften und seine Ursachen klar zu verstehen, entschlossen zu sein, die Ursachen des bedingten Daseins zu überwinden und dadurch vollständige Freiheit über sein Dasein zu erreichen. Das höchste Ziel jedoch ist nicht das Erlangen einer solchen individuellen Freiheit von bedingtem Dasein, sondern das Erreichen des Zustandes der vollen Erleuchtung, der auch Buddhaschaft oder Zustand der Allwissenheit genannt wird. Dieses Ziel wird von den mutigsten und intelligentesten Anwendern angestrebt, von Personen, die sich nicht damit zufriedengeben, nur selbst einen Zustand der Freiheit und des Glücks und Friedens zu erreichen, sondern entschlossen sind, alle anderen Wesen in einen solchen Zustand zu führen. Nicht nur man selbst befindet sich in dieser bedingten Art des Daseins, sondern auch alle anderen Wesen erfahren die Leiden bedingten Daseins in gleicher Weise. Nachdem man in bezug auf die eigene Situation das Leid des bedingten Daseins klar verstanden hat, wird der Ausblick auf die anderen gerichtet. Und indem man sieht, daß die anderen sich in der gleichen schwierigen Situation befinden, vermehren sich die Gedanken um das Wohl der anderen. Einerseits sind die anderen genau gleich wie man selbst: sie sehnen sich nach Glück und sehnen sich danach, von Leid frei zu sein. Andererseits erkennt man, daß die anderen eine sehr enge Verbindung, ähnlich wie Verwandte, mit einem selbst haben und ebenso, daß man von den anderen ständig unvergleichliche Güte erfährt. Wenn einem diese Tatsache immer deutlicher wird, entsteht die Entschlossenheit, die Verantwortung für das Wohl aller anderen Wesen selbst zu tragen. Zwei Zustände des Geistes entstehen in einem: einerseits Erbarmen, mit dem man selbst alle anderen von Leiden loslösen will, und Liebe, die entschlossen ist, selbst alle anderen in einen Zustand von Glück zu führen. Um dieses Ziel erfüllen zu können, entsteht der Wunsch, selbst den Zustand des Buddha zu erreichen, in dem Fehler gänzlich beseitigt und alle Eigenschaften vollkommen sind. Eine solche Person hat nicht den Wunsch, die volle Erleuchtung zu erreichen, um selbst zum Höchsten oder Besten zu werden. Sondern vielmehr wird Erleuchtung erkannt als ein unumgänglicher Zustand, um wirksam und vollkommen das Wohl der anderen herbeizuführen. So, wie man den Wunsch nach einem Becher hat, um Wasser trinken zu können, so entsteht der Wunsch, die volle Erleuchtung zu erreichen, um dadurch das Wohl der Wesen erfüllen zu können. Wenn diese Entschlossenheit fest entstanden ist, wird sie Bodhitschitta oder Geist der Erleuchtung genannt. Eine Person, die diesen Zustand des Geistes in stabiler Weise in sich erzeugt hat und entsprechend dieser Entschlossenheit sich bemüht, wird Bodhisattva genannt. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickeln Bodhisattvas Geben, Ethik, Geduld, Enthusiasmus, Konzentration und Weisheit. Faßt man die Anwendungen eines Bodhisattva zusammen, dann spricht man von Methode und Weisheit. Die Essenz der Methode ist das große Erbarmen, der Wunsch, selbst alle Wesen von allen Leiden loszulösen, und Handlungen wie Geben, die von diesem Erbarmen erfaßt sind. Weisheit ist die Erkenntnis, die die letztliche Art des Bestehens aller Objekte direkt wahrnimmt. Bodhisattvas streben nicht nur nach der Erkenntnis der Identitätslosigkeit der eigenen Person, sondern nach der Erkenntnis der Identitätslosgkeit aller Objekte.

Identitätslosigkeit

Uns erscheinen im Moment alle Objekte so, als ob sie ihre Identität in sich tragen würden. Die Wirklichkeit jedoch ist, daß alles aufgrund einer Benennung durch unsere Vorstellung existiert. Alle Objekte existieren in Abhängigkeit von Ursachen, Umständen, Teilen, Aspekten und so weiter. Uns jedoch erscheint es entgegen der Wirklichkeit, als ob die Objekte unabhängig von der Seite ihrer Grundlage her bestünden. Wir glauben auch, daß die Objekte so existieren, wie sie uns erscheinen. Bodhisattvas untersuchen die Wirklichkeit in präziser Weise und erkennen, daß alle Objekte leer von innewohnender Existenz sind. Sie erreichen eine direkte Wahrnehmung der Leerheit und beseitigen durch fortgesetztes Entwickeln dieser Wahrnehmung in ihren Meditationen alle Fehler des Geistes. Die Weisheit und das große Erbarmen, das beabsichtigt, alle Wesen von Leid loszulösen, sind die zwei essentiellen Anwendungen des Bodhisattva. Alle Anwendungen eines Bodhisattva sind von diesen beiden Zuständen erfaßt. Wenn durch solche Anwendungen Erbarmen, Weisheit und Kraft zur Perfektion gebracht worden sind und alle Fehler vollständig beseitigt sind, dann wird dieser Zustand als volle Erleuchtung bezeichnet. Das Erreichen der vollen Erleuchtung kennt nur ein Ziel, und das ist, dadurch das Wohl der Wesen in vollständiger Weise zu erwirken. Für einen Anwender des Dharma ist dieser Zustand der Erleuchtung das höchste Ziel.

Zuflucht

Der Zustand der Erleuchtung ist nicht nur das höchste Ziel, sondern für jeden Anwender von Dharma auch die letztliche Zuflucht. Im Buddhismus gibt es drei Objekte der Zuflucht: Buddha, Dharma und Sangha. Unter Buddha versteht man den Zustand, in dem alle Fehler beseitigt sind und alle Eigenschaften zur Perfektion gebracht worden sind, und ebenso eine Person, die diesen Zustand erreicht hat. Unter Dharma versteht man den fehlerfreien Weg, den die erleuchteten Wesen gezeigt haben, ebenso wie die Erkenntnisse, die durch die Anwendung dieses Weges erreicht werden. Das Dharma der Erkenntnisse wird als die eigentliche Zuflucht bezeichnet. Indem man diese Erkenntnisse im Geist entwickelt, wird die Ursache von Leid beseitigt, genauso wie man durch das Einnehmen der Medizin direkt der Krankheit entgegenwirkt. Unter Sangha versteht man Wesen wie den vollständig erleuchteten Buddha, Bodhisattvas und alle Wesen, die die individuelle Befreiung erlangt haben, und ebenso alle Wesen, die sich auf dem Weg zur Befreiung befinden. Diese werden als Sangha oder heilige Gemeinschaft bezeichnet. Diese drei Objekte der Zuflucht sind vergleichbar mit einem qualifizierten Arzt, einer fehlerfreien medizinischen Behandlung und Pflegepersonal, wie sie für einen Schwerkranken für eine Genesung unbedingt notwendig sind. Freiheit von Leid und den Ursachen des Leides wird erreicht, indem man einerseits selbst den richtigen Bemühungen folgt und mit einem solchen fehlerfreien Objekt der Zuflucht eine Verbindung herstellt. Buddha benützt viele Mittel, um das Wohl der Wesen zu erreichen, aber das wichtigste Mittel ist, ihnen den fehlerfreien Weg zur Freiheit von Leid zu zeigen. In den Schriften heißt es, Buddha kann die negativen Eindrücke der Wesen nicht mit Wasser wegwaschen. Er kann den Wesen das Leid nicht abnehmen, wie man einen Dorn aus dem Fleisch entfernt. Er kann seine Erkenntnisse den Wesen nicht wie ein Geschenk überreichen, aber er befreit die Wesen, indem er ihnen die Wahrheit des Dharma zeigt. Wenn man sein ganzes Vertrauen, für das eigene Wohl und das Wohl der anderen, auf die Drei Juwelen setzt, dann spricht man von Zufluchtnehmen. Dieses Zufluchtnehmen ist die wichtigste Grundlage für die Anwendung des Buddhismus. Aus den verschiedenen Arten von Meditation ist die Zufluchtnahme auch die erste Meditation. Die Drei Juwelen sind auch das Objekt der Gebete und Verehrung im Buddhismus. Aber Vertrauen und Hingabe allein sind nicht genug, es ist auch notwendig, den Verpflichtungen, die einem aus der Zuflucht entstehen, zu folgen. Die Verpflichtungen sind ein fehlerfreies Befolgen des Gesetzes von Ursache und Wirkung und ebenso, die Drei Juwelen als Objekt des Schutzes und Quelle der Inspiration zu betrachten. Die jetzt existenten Drei Juwelen werden als die Drei Juwelen der Ursache bezeichnet. Der Zustand der Drei Juwelen, den man selbst in Zukunft erreichen wird, wird als resultierende Drei Juwelen bezeichnet. Diese sind das letztliche Ziel, das man anstrebt, und auch das Objekt, auf das man sein ganzes Vertrauen setzt.

Die Natur des Geistes

Wenn man sich fragt, ob dieses Ziel bei entsprechender Anstrengung erreichbar ist, dann ist die Antwort ja. Denn so stark die Fehler unseres Geistes auch sein mögen, sie sind nicht Teil der Natur des Geistes. Wenn die Natur des Geistes selbst fehlerhaft wäre, könnte man sich anstrengen, soviel man will, dann gäbe es keine Möglichkeit, die Fehler zu beseitigen. Aber die Fehler des Geistes wie Begierde, Haß, Egoismus und so weiter können vom Geist entfernt werden, auch wenn sie noch so stark sind, weil sie nicht Teil der Natur des Geistes sind. Ein Kristall zum Beispiel, der von dicken Lagen von Verunreinigungen überdeckt ist, kann von diesen Verunreinigungen befreit werden, weil die Verunreinigungen nicht in der Natur des Kristalls liegen. Mit entsprechender Anstrengung kann die klare und reine Natur des Kristalls zum Vorschein gebracht werden. Es gibt viele Aspekte, in denen man sich anstrengt, in erster Linie aber sind es drei: reine Anschauung, reines Verhalten und reine Meditation.

Anschauung, Verhalten, Meditation

Unter reiner Anschauung versteht man die richtige Art von Philosophie. Es muß eine Philosophie sein, die einem selbst und anderen die Natur von Glück und Leid und deren Ursachen, die Grundlage, den Weg und das Ziel in klarer und fehlerfreier Weise darlegt. Es muß eine Anschauung sein, die der Wirklichkeit entspricht und frei von Extremen ist. Damit eine solche reine Anschauung im eigenen Geist entstehen kann, genügt es nicht, nur einfach zu vertrauen, sondern es ist notwendig, richtigen Untersuchungen zu folgen. Im Buddhismus wird das Untersuchen und Analysieren als sehr wichtig gesehen. Wie zuvor erwähnt, hat Buddha immer wieder betont, wie wichtig es ist, die Dinge zu untersuchen. Aus diesem Grund sind Vorgangsweise und manche Auffassungen des Buddhismus denen der heutigen Wissenschaft ähnlich. Zum Beispiel ist im Buddhismus die Tatsache, daß alle Objekte in abhängiger und bezogener Weise bestehen, eine der wichtigsten Auffassungen. Auch in der modernen Wissenschaft findet man ähnliche Gedanken. Philosophie und Psychologie des Buddhismus sind außerordentlich tief und weit. Deshalb gibt es auch manche Leute, die sagen, der Buddhismus sei keine Religion, sondern lediglich eine Philosophie. Manche modernen Philosophen jedoch sind der Auffassung, der Buddhismus sei keine Philosophie, sondern eine Religion, weil es im Buddhismus auch Mönche und Gebete gibt. Tatsächlich verhält es sich jedoch so, wie es Seine Heiligkeit der Dalai Lama, beschreibt: Aus dem Verbund der Religionen wird der Buddhismus hinausgeworfen mit der Behauptung, er sei eine Philosophie; aus dem Verbund der Philosophien wird er hinausgeworfen mit der Behauptung, er sei Religion. Von beiden Seiten hinausgeworfen, wird der Buddhismus zu einer Brücke zwischen Religion und Philosophie. Ich finde diese Aussage sehr bedeutungsvoll. Ob der Buddhismus nun tatsächlich eine Religion ist oder nicht, hängt wohl von der Bedeutung ab, die man dem Wort Religion gibt. Wenn das essentielle Wesen einer Religion der Glaube an einen Schöpfergott ist, dann ist der Buddhismus keine Religion. Im Buddhismus wird kein Schöpfergott akzeptiert, da alles entsprechend dem natürlichen Gesetz von Ursache und Wirkung, das von niemandem gemacht ist, entsteht. Wenn Religion jedoch bedeutet, einen Zustand der Befreiung und Perfektion zu erkennen und sich zu bemühen, einen solchen Zustand für das eigene Wohl und das aller anderen Wesen zu erreichen, dann ist der Buddhismus sehr wohl eine Religion. Einer der wichtigsten Aspekte im Buddhismus ist die richtige Philosophie oder richtige Anschauung. Aber das allein genügt nicht. Denn das, was wir und andere erfahren, folgt nicht unseren philosophischen Auffassungen, sondern vielmehr unseren Handlungen. Deshalb ist es notwendig, einem richtigen Verhalten zu folgen, das der richtigen Anschauung entspricht. Auf der Grundlage einer solchen richtigen Anschauung und eines richtigen Verhaltens gilt es dann, richtiger Meditation oder Schulung des Geistes zu folgen. Buddha hat außerordentlich viele Methoden der Meditation erklärt. Alle können jedoch in konzentrative und analytische Meditation zusammengefaßt werden. Objekte konzentrativer und analytischer Meditationen gibt es sehr viele, entsprechend den unterschiedlichen Stufen der Entwicklung des Geistes. Meditation ist nicht ein Ausrasten des Geistes oder ein Unterdrücken aller Gedanken. Vielmehr ist Meditation ein äußerst aktiver, klarer und bewußter geistiger Vorgang. Zuerst ist es notwendig, unseren Geist, der wie ein wildes Pferd ist, zu zähmen. Wenn der Geist einmal gezähmt ist, dann kann er für wichtige Dinge benützt werden. Eigenschaften wie Erbarmen, Liebe, Weisheit können in ständig steigendem Maße entwickelt werden. Es gibt nur zwei Ziele, die mit Meditation angestrebt werden: Einerseits, die Fehler des Geistes abzuschwächen und sie letztlich ganz zu beseitigen, andererseits, die positiven Neigungen des Geistes zu stärken und sie zur Perfektion zu bringen. Damit Meditation jedoch gelingen kann, ist die Grundlage einer reinen Anschauung und eines reinen Verhaltens unumgänglich. Es ist so wie beim Bauen eines Hauses. Um ein Haus bauen zu können, ist es notwendig, einen guten und geeigneten Grund und alle Materialien für den Hausbau zur Verfügung zu haben. Wenn alle diese Dinge vollständig sind, dann kann ein Haus schnell und ohne Schwierigkeiten gebaut werden. Auf der guten Grundlage eines korrekten ethischen Verhaltens, mit allen Materialien einer reinen Anschauung versehen, kann die Aufbauarbeit der Meditation effizient ausgeführt werden. Und dadurch kann zweifellos ein wertvolles Resultat erreicht werden, das für einen selbst und alle anderen von großem Nutzen ist.

Mission und Bekehrung?

Wenn wir gefragt werden, ob es im Buddhismus Mission und Bekehrung gibt, dann ist die Antwort nein. Es gibt weder Mission noch Bekehrung, denn man sieht keinerlei Notwendigkeit dafür. Alle Menschen zu Buddhisten zu machen wird nicht als Ziel gesehen. Als erstrebenswertes Ziel wird gesehen, daß alle Menschen frei von Leid sind, Glück erfahren und in Gedanken und Handlungen einem heilsamen Verhalten folgen. Und es spielt keine Rolle, was für Mittel angewendet werden müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Es war Buddhas Absicht, daß Erklärungen des Dharma nur gegeben werden, wenn Menschen Interesse an solchen Erklärungen zeigen. Es ist nicht korrekt, Dharma zu unterrichten, wenn kein Interesse vorhanden ist. Außer in einigen wenigen besonderen Situationen ist es immer notwendig, daß eine Anfrage vorhanden ist, um Erklärungen über Dharma zu geben. Diese Tradition besteht seit der Zeit des Buddha bis heute in der gleichen Weise. Auch im Westen gibt es es heute eine recht große Zahl von Lehrern des Buddhismus. Die wirklichen Meister unter ihnen geben nur Unterricht, wenn sie darum gebeten werden. Es gibt im Buddhismus kein System, wo man nach Schülern für Unterweisungen sucht oder wo von einer zentralen Organisation aus Personen geschickt werden, um Unterricht zu geben. Der Buddhismus ist daher in keiner Weise gut organisiert, um sich zu verbreiten. Ob sich der Buddhismus verbreitet oder nicht, hängt davon ab, ob es Personen gibt, die sich dafür interessieren oder nicht. Der Buddhismus kennt auch kein Ritual der Bekehrung und kein Ritual, das eine Person zum Buddhisten macht. Einzig die eigene Auffassung ist es, die einen als Buddhisten kennzeichnen kann. Wenn man die Bedeutung der Drei Juwelen klar verstanden hat, die eigene Beziehung zu den Drei Juwelen klar sieht und aus der Tiefe seines Herzens Zuflucht bei den Drei Juwelen nimmt, dann kann man sich richtigerweise als Buddhisten bezeichnen. Wenn das nicht der Fall ist, wird auch das Ausführen von Ritualen und Gebeten einen nicht zum Buddhisten machen. Ohne diese wichtigen Auffassungen im eigenen Inneren ist es gänzlich unmöglich, daß einen jemand von außen zum Buddhisten macht. Das Konzept des Fanatismus gibt es im Buddhismus in keiner Weise. Vielmehr wird es als sehr wichtig gesehen, allen Religionen den gleichen Respekt entgegenzubringen. Denn eine Religion allein in sturer Weise als die einzige richtige zu betrachten ist eine Auffassung, die im Buddhismus nicht geteilt wird. Die verschiedenen Religionen werden gesehen wie die verschiedenen medizinischen Systeme in der Welt. Im Osten und im Westen gibt es verschiedene medizinische Systeme wie zum Beispiel homöopathische und allopathische Medizin. Diese Systeme sind verschieden, aber sie haben alle das gleiche Ziel, nämlich die Krankheiten des Körpers zu heilen. Für einen selbst ist es wichtig, diejenigen Medikamente zu nehmen, die für einen die beste Wirkung zeigen, und die anderen medizinischen Systeme ebenfalls entsprechend zu schätzen und zu achten. Gegenüber Medikamenten können zwei falsche Auffassungen in uns auftreten. Die eine ist, daß wir die Medikamente, die wir selbst einnehmen, als die einzig brauchbaren betrachten. Die andere Auffassung ist, daß auch eine beliebige Mischung von Medikamenten verträglich sei, da ja alle Medikamente zur Heilung dienen. Die Auffassung gegenüber den Religionen verhält sich gleich. Die Religionen sind wie medizinische Systeme, denn alle zielen sie darauf ab, die Wurzel aller Leiden, die Krankheit des Geistes, zu überwinden. Es ist eine der wichtigsten Verantwortungen einer Person, die Religion anwendet, dem zu folgen, was für sie selbst am wirkungsvollsten ist, und gleichzeitig den anderen entsprechenden Respekt entgegenzubringen. Wenn diese Auffassung nicht vorhanden ist, besteht eine große Gefahr, daß die Religionen zu einer Quelle von Leid und Zerstörung werden. Und wenn das der Fall ist, dann ist es wie Medizin, die sich zu Gift verwandelt hat.

Buddhistische Traditionen

Die verschiedenen buddhistischen Systeme, die heute in der Welt existieren, sind im Grund alle gleich. Denn die Vier edlen Wahrheiten sind die Grundlage aller dieser Systeme. Ein System, das etwas anderes unterrichtet als die Vier edlen Wahrheiten, kann nicht als ein buddhistisches System betrachtet werden. Innerhalb des Buddhismus gibt es heutzutage in erster Linie zwei Traditionen. Diese werden Mahayana und Hinayana genannt. Statt Hinayana wird auch der Ausdruck Theravada verwendet. Hinayana bedeutet Kleines Fahrzeug, Mahayana wird als Großes Fahrzeug übersetzt. Es gibt zwei Gesichtspunkte für eine solche Unterteilung, einerseits in bezug auf die Anwendung, andererseits in bezug auf die Philosophie. Die eigentliche Unterscheidung muß in bezug auf die Anwendung gemacht werden. Wenn man Dharma in erster Linie mit der Absicht anwendet, eigene individuelle Befreiung zu erreichen, dann ist das die Einstellung, die dem Kleinen Fahrzeug entspricht. Wenn Dharma angewendet wird mit der Absicht, für das Wohl aller Wesen den Zustand der vollen Erleuchtung zu erreichen, dann wird das die Einstellung des Großen Fahrzeugs oder die Einstellung der Bodhisattvas genannt. Buddha hat die Mittel gezeigt, um beide diese Ziele erreichbar zu machen. Die einzelne Person folgt der einen oder anderen Anwendung entsprechend ihren Fähigkeiten. Wenn auf der philosophischen Ebene unterschieden wird, kann gesagt werden, daß der Buddhismus, wie er in den nördlichen asiatischen Ländern zur Blüte kam, dem Mahayana entspricht; wie er in den südlichen Ländern verbreitet ist, dem Theravada entspricht. Die eigentliche Grundlage dieser Traditionen ist identisch. Man findet jedoch einige Unterschiede in philosophischen Aspekten.

Die Grundlage aller philosophischen Anschauungen des Buddhismus wird in den sogenannten Vier Siegeln der Worte des Buddha ausgedrückt. Das sind die folgenden Punkte:

  • Alles Zusammengesetzte ist vergänglich
  • Alles Unreine ist leidvoll
  • Alle Objekte sind leer und identitätslos
  • Der Zustand jenseits von Leid ist höchster Friede

Alle philosophischen Anschauungen des Buddhismus beruhen auf diesen vier Punkten. Auf dieser Grundlage gibt es viele weitere Ebenen buddhistischer Philosophie mit fortschreitender Präzision. Die wohl berühmteste und auch die präziseste philosophische Schule des Buddhismus wird Madhyamika genannt, auch als Mittlerer Weg übersetzt.

Buddhismus für westliche Leute

Und wenn man fragt, ob eine Anwendung des Buddhismus für westliche Leute passend ist, dann ist die Antwort zweifellos ja. Die Unterweisungen des Buddha haben keinerlei Bezug zu den oberflächlichen und weltlichen Regungen einer Zeit wie Brauchtum, Rasse und so weiter. Die Unterweisungen des Buddha betreffen die grundlegendsten Situation der Wesen und sind deshalb für jede Person zu jeglichem Zeitpunkt von Nutzen. In der grundlegendsten Art unseres Daseins sind wir Wesen alle gleich, denn wir alle sehnen uns nach Glück und sehnen uns danach, Leid zu vermeiden. In gleicher Weise haben wir die Ursachen für unser Glück und unser Leid in uns selbst. Solange es im Geist der Wesen Begierde, Haß, Egoismus, Eifersucht und so weiter gibt und die Wesen darunter leiden, so lange sind die Unterweisungen des Buddha modern und gültig. Buddha hat keine Ratschläge gegeben, wie man in buddhistischer Weise Geburtstage feiert, heiratet oder Bestattungen ausführt. Das sind Bräuche eines Landes, und diese entsprechend dem Brauch des Landes auszuführen ist durchaus geeignet. Wenn man Interesse hat und in der Lage ist, die Gedanken zu verstehen, dann kann jeder, ganz gleich, welcher Herkunft, welcher Rasse, welchen Alters oder welchen Geschlechts er auch sein mag, die Unterweisungen des Buddha anwenden.

 Der Buddhismus Tibets

Der Buddhismus Tibets ist eine Kombination von Hinayana und Mahayana. Im Westen wird der tibetische Buddhismus immer wieder mit dem Ausdruck Lamaismus bezeichnet, als ob es sich dabei um etwas ganz anderes handelte. Der Ausdruck dürfte wohl davon herrühren, daß in Tibet der Meister, der Lama, als eine sehr wichtige Person betrachtet wird und einige ganz außergewöhnliche Lamas, wie zum Beispiel Seine Heiligkeit der Dalai Lama, allgemein verehrt und sehr geschätzt werden. Nicht jedoch handelt es sich um etwas anderes, denn der Buddhismus Tibets entspricht in seiner Anwendung genau dem Buddhismus in Indien zur Zeit seiner Blüte. Nach Tibet kam der Buddhismus zum erstenmal im 7. Jahrhundert. Das war zur Zeit des 33. tibetischen Königs, des Königs Songtsen Gampo. Durch seine Initiative und den Wert, den Tibeter im Buddhismus sahen, wurden mit vielen Mühen indische Meister nach Tibet eingeladen, und Tibeter reisten nach Indien, um den Buddhismus zu studieren. Viele große Meister Indiens kamen nach Tibet. Um nur einige der berühmtesten zu erwähnen: Schantarakschita, Padmasambhava und Atischa. Im Laufe der Zeit gelangte der Buddhismus zu einer außerordentlichen Blüte, und es traten innerhalb der tibetischen Bevölkerung selbst außergewöhnliche Meister auf. Um nur einige Namen zu erwähnen: Meister Marpa, Milarepa und Dsche Tsongkhapa. Vier Traditionen des Buddhismus entwickelten sich in Tibet. Diese Traditionen werden Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelug genannt. Diese sind im wesentlichen gleich. Sie sind alle eine Kombination der Unterweisungen des Buddha, des Hinayana und des Mahayana. Auch in bezug auf ihre Anwendungen und philosophischen Auffassungen sind sie gleich. Aufgrund außergewöhnlicher Meister, die in der Vergangenheit aufgetreten sind, gibt es geringe Unterschiede in diesen Traditionen, in der Betonung und in dem Stil bestimmter Anwendungen. Der Unterschied zwischen diesen vier Traditionen ist in keiner Weise vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten, sondern vielmehr mit den verschiedenen Orden innerhalb des Katholizismus. Der größte Teil der tibetischen Bevölkerung gehört der Gelug-Tradition an. Ebenso gehören die größten klösterlichen Zentren wie die Klosteruniversitäten Drepung, Sera und Ganden zur Gelug-Tradition. Diese Klöster waren in Tibet außerordentlich groß. Mein Kloster zum Beispiel, das zweitgrößte, das Kloster Sera, hatte etwas über 7000 Mönche. Diese Klöster konnten im Exil wieder aufgebaut werden. In meinem Kloster in Indien leben zur Zeit 2000 Mönche. In diesen Klöstern studieren die Mönche äußerst intensiv. Alle Klassen, von den untersten der Novizen bis zu denen mit den höchsten Studien sind in diesen Klöstern vorhanden.

 Fünf Gebiete bilden das eigentliche Zentrum der buddhistischen Studien,  das sind:

  • Pramana – Logik
  • Paramitas – Stufen und Wege
  • Abhidharma – Phänomenologie
  • Vinaya – ethisches Verhalten (was auch die Regeln und Gelübde des klösterlichen Lebens enthält)
  • Madhyamika – Philosophie des Mittleren Weges.

Um Novize werden zu können, muß man mindestens sieben Jahre alt sein, um alle Gelübde eines Mönchs nehmen zu können, mindestens zwanzig Jahre. Ein vollständiges Studium dieser fünf Gebiete dauert mindestens 25 Jahre. Am Ende dieses Studiums findet eine große Prüfung statt, bei der man einen der Gesche-Titel erhalten kann. Das ist etwa vergleichbar mit einem Doktor-Titel an unseren Universitäten. Aber die Art des Studierens in diesen Klosteruniversitäten ist in keiner Weise vergleichbar. Denn bei diesen Studien werden theoretisches Lernen und Anwendung Hand in Hand ausgeführt. Nicht nur erlangt man ein akademisches Wissen, sondern gleichzeitig muß man dieses Wissen auch benützen, um seinen Geist entsprechend zu schulen und dadurch eine innere Entwicklung des Geistes herbeizuführen. Das Ziel dieser Studien ist nicht, nur einen Titel zu erwerben, sondern vielmehr, Dharma so tief und vollständig wie nur möglich zu verstehen, um dadurch in der Lage zu sein, seinen Geist wirkungsvoll zu entwickeln. Im allgemeinen ist es nicht notwendig, Mönch zu sein, um Dharma studieren zu können, aber wenn man auf der Grundlage eines Lebens als Mönch Dharma studiert, ist das wesentlich wirkungsvoller. Für jeden ist es möglich, ganz gleich, ob er Mönch ist oder nicht, Dharma zu lernen, es anzuwenden, seinen Geist zu schulen und dadurch Fortschritte zu machen. Aber je geringer die Ablenkungen sind und je mehr Zeit und Energie man auf die Anwendung von Dharma richten kann, um so größer ist der Fortschritt. Deshalb wurden in Tibet viele Leute gerne Mönch oder Nonne. Aber auch Personen, die nicht Mönche oder Nonnen waren, hatten in Tibet große Freude an Dharma, sie hatten außerordentliches Vertrauen darauf und bemühten sich nach bestem Vermögen, Dharma anzuwenden. Dank dieser Einstellung konnte Tibet während vieler Jahrhunderte, seit der Zeit des Anfangs der Blüte des Buddhismus, in friedlicher Weise existieren. Seit der Besetzung Tibets durch Rotchina 1959 jedoch entstanden schwere Hindernisse für den Buddhismus in Tibet. Nicht nur wurden die Zentren des Studiums des Buddhismus zerstört, sondern auch jedes Zeichen einer Anwendung von Dharma wurde zu einem kriminellen Vergehen. Unter diesen Umständen verloren viele Menschen ihr Leben, und über 7000 Klöster wurden zerstört. Seine Heiligkeit der Dalai Lama, viele große Meister und etwa hunderttausend Tibeter konnten aus Tibet fliehen und haben zum größten Teil in Indien, aber auch in der Schweiz und in manchen anderen Ländern Zuflucht gefunden. Alle bedeutenden Klöster und kulturellen Zentren konnten in Indien wieder aufgebaut werden. In dieser Weise ging die geistige Tradition Tibets nicht verloren und konnte gut erhalten werden. Viele junge Leute nehmen die Möglichkeit dieser neu aufgebauten Studienzentren wahr. Und bis heute fliehen jedes Jahr viele junge Tibeter aus Tibet, um in den Klöstern in Indien Mönch zu werden. So sind die Zukunftsaussichten für den tibetischen Buddhismus nach wie vor sehr gut. Auch im Westen ist das Interesse am Buddhismus sowohl auf der Seite der Tibeter als auch auf der Seite der Europäer sehr groß. In der Schweiz gibt es zwei tibetische klösterliche Institute, das eine in Rikon und das andere hier, wo ich lebe, auf dem Mont Pèlerin. Dieses Zentrum hier wurde von meinem ehrwürdigen Meister, Gesche Rabten Rinpotsche, gegründet. Mein Meister war einer der großen Pioniere des tibetischen Buddhismus im Westen. Er war nicht nur einer der außergewöhnlichsten Gelehrten des Buddhismus und Meister der Meditation, sondern er trug auch in unvergleichlicher Weise zum Aufblühen des Buddhismus im Westen bei. Seine ersten Kontakte mit westlichen Studenten entstanden in den frühen sechziger Jahren. Nach einiger Zeit schickte ihn Seine Heiligkeit der Dalai Lama in die Schweiz; zuerst in das Institut in Rikon. Während seines Aufenthalts gründete Gesche dieses Zentrum hier und vier weitere Zentren in Europa. Hier studieren sowohl Tibeter als auch Europäer gemeinsam in einer klösterlichen Umgebung den tibetischen Buddhismus. Im Jahr 1977 gründete Gesche Rabten Rinpotsche dieses Zentrum für drei Hauptziele:

  • Um die tibetische buddhistische Kultur in einer lebendigen Weise zu erhalten.
  • Um die Notwendigkeiten der Tibeter, und darunter besonders der jüngeren Generation,im Westen zu erfüllen und es ihnen möglich zu machen, ihr geistiges Erbe zu erhalten.
  • Um die Notwendigkeiten der zunehmenden Anzahl westlicher Leute mit Interesse am Buddhismus zu erfüllen.

Es scheint, daß im Westen jedes Jahr die Zahl derjenigen, die am Buddhismus interessiert sind, zunimmt. Zweifellos gibt es viele, die nur neugierig sind und oberflächliches Interesse haben. Aber es gibt auch viele, die ernsthaft eine Lösung ihrer inneren Probleme suchen; ebenso wie es aber auch viele sind, die sich besonders von der logischen, philosophischen und nicht dogmatischen Natur des Buddhismus angezogen fühlen. So denke ich, daß sich der Buddhismus im Westen noch lange Zeit verbreiten wird. Wie für jedes andere religiöse System besteht auch für den Buddhismus die größte Gefahr darin, daß nicht qualifizierte und kommerziell orientierte Personen das wachsende Interesse der Menschen im Westen für eigenen Gewinn ausnützen und im Namen des Buddhismus Dinge verbreiten, die in Wirklichkeit sehr wenig mit dem Buddhismus zu tun haben oder ihm sogar ganz entgegengesetzt sind. Deshalb ist es sehr wichtig, so wie Buddha das immer wieder betont hat, genaue Analysen und Untersuchungen auszuführen, bevor man irgend etwas oder irgend jemandem folgt. So kann ich aus meiner eigenen Erfahrung sagen, daß es jedes Jahr eine zunehmende Menge an Publikationen im Bereich des Buddhismus gibt, aber nach wie vor authentische und wirklich nützliche Lektüre über den Buddhismus äußerst rar ist. Deshalb ist es der Mühe wert und sehr zu empfehlen, anstatt naiv zu sein, sachlich und kritisch zu bleiben. Einem geistigen Weg zu folgen hat immer einen bedeutenden Grund. Deshalb ist es wichtig, etwas zu wählen, das einen wirklichen Wert hat. Künstliche Methoden werden immer nur künstliche Resultate herbeiführen oder noch mehr Verwirrung mit sich bringen. So ist es mein Wunsch und meine Hoffnung, daß die authentischen und fehlerfreien Unterweisungen des Buddha in der Welt lange bestehen bleiben und unzählige Wesen von ihren Leiden und den Ursachen ihrer Leiden befreien.

Gonsar Tulku

Direktor des Institutes für Höhere Tibetische Studien
Le Mont-Pèlerin, Schweiz

http://www.rabten.eu

Kloster Rabten Choeling
Zentrum für Höhere Tibetische Studien
CH-1801 Le Mont-Pèlerin Schweiz
Phone: +41-21-921 3600
info@rabten.ch